Der Titel „Poesie aus Licht, Glas und Farbe“ beschreibt treffend die von Thierry Boissel gestalteten Räume und Werke zur aktuellen Sonderausstellung im Deutschen Glasmalerei-Museum Linnich.
Der 1962 in Frankreich geborene Künstler lebt und arbeitet in München, wo er die Studien- und Experimentierwerkstatt für Glasmalerei, Licht und Mosaik an der Akademie der Bildenden Künste leitet (vgl. GH 4/05,10f; GH 1/08,10f und GH 4/12,18).
Seit seinem Studium bei Ludwig Schaffrath ist die Glasmalerei in den Mittelpunkt seines Werkes gerückt. Boissel arbeitet allerdings weniger mit der traditionellen Bleiverglasung, vielmehr experimentiert er mit Einscheibensicherheitsglas sowie den Techniken des Schmelzverfahrens und der thermischen Verformung.
Die Ausstellung umfasst unter anderem vier eigenständige Rauminstallationen, die in Bezug zu realisierten architekturgebundenen Werken stehen. Das Werk „Zeitzeugen“ (2011) beispielsweise ist ein Teilstück (Zweitausfertigung) aus einer 30 m langen, gläsernen Kirchenraum-Trennwand in St. Agatha in Altenhundem/Lennestadt. Mit reliefartig in das farblose Glas eingeschmolzenen Punkt- und Streifenrastern stellt es fotorealistische Figurenszenen dar. Je nach Standpunkt und Aktivität des Betrachters und dem sich damit verändernden Lichteinfall, sind die Figuren deutlicher oder undeutlicher wahrnehmbar, der Betrachter ist einem ständigen Oszillieren zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit ausgesetzt.
Wie ein Kontrast wirkt dagegen die Werkgruppe der abstrakten „Farbgedichte“. Hier dominiert die leuchtende Farbe, die in unterschiedlicher Intensität von durchlässig bis deckend in runden Formen auf transparente Glasscheiben aufgetragen wurde. Leuchtende Farbkörper scheinen losgelöst vom Bildhintergrund im Raum zu schweben. Hinter der scheinbar beliebigen Anordnung der Farben verbirgt sich eine Codierung. Die gesamte Werkgruppe basiert auf Chansons des französischen Sängers und Autors Jacques Higelin, wie beispielsweise das Werk „Il n’est pas encore trop tard“ (2015), das eine Zeile aus dem Lied „Se revoir et s’émouvoir“ wiedergibt. Jede Farbe ist einem bestimmten Buchstaben zugeordnet, die Tupfer sind die farbliche Umsetzung der entsprechenden Textzeile. Mit diesem Wissen schweben die Farbkörper nicht mehr zufällig und beziehungslos im Raum, sie schwingen geradezu. Dieser Eindruck verstärkt sich durch die Schichtung verschiedener Glasscheiben hintereinander.
Bei „Zeitzeugen“ und „Farbgedichte“, wird deutlich, dass der Glasmalerei im Gegensatz zur Tafelmalerei die dritte Dimension zur Verfügung steht. Zum einen bilden die Reliefstrukturen im Glas eine physisch tastbare Ebene, zum anderen eröffnet das Lichtspiel mit Reflexionen, Spiegelungen und Überlagerungen eine virtuelle Räumlichkeit. Dieses komplexe Spiel findet in Boissels Installation „Raum“, die er eigens für die Ausstellung in Linnich kreierte, ihren Höhepunkt. Rechteckige und runde Ornamente aus anderen Projekten sind als fortlaufendes Muster auf die Museumswände aufgebracht, parallel hierzu stehen Glaswände, die ebenfalls ornamental verziert wurden – transparent, matt oder partiell verspiegelt. Auch hier hängt es von der Perspektive ab, welches Bild sich dem Betrachter beim Blick auf und durch die verschiedenen Scheiben eröffnet. Das Zusammenspiel von Licht, Glas, Spiegelungen und Wandgestaltung bietet eine unendliche Variation von Mustern und suggeriert virtuelle Räume, die zu philosophischen Fragestellungen anregen. Thierry Boissel bricht mit den üblichen Seh- und Denkgewohnheiten und ermöglicht dem Betrachter eine intensive Interaktion mit seinen Werken.
Kommentar schreiben