Wo Glas ist, kann es Scherben geben. So geschehen bei einem rheinischen Glas-Sammler mit einer kostbaren Vase von Diego Feurer. Ein Glück, dass es die Münchner Schmuckkünstlerin Marianne Schliwinski gibt. Sie fertigte mit ausgewählten Bruchstücken der Vase kostbaren Schmuck.
Schliwinski hat in 5 Jahrzehnten ihres künstlerischen Schaffens nicht nur edle Werkstoffe verarbeitet, sondern auch Zufallsfunde. Auch Bruchstücke alltäglicher Gegenstände integrierte sie mit hoher bildnerischer Phantasie in ihre Objekte. Glas mit seinen schillernden Eigenschaften hat das Spektrum ihrer Schmuckkreationen faszinierend erweitert. Von wertlosen Scherben lässt sie sich inspirieren. Als Venedig-Liebhaberin weiß sie um eine unerschöpfliche Quelle an Scherben. Diese befindet sich am Leuchtturm von Murano. Auf Murano waren die Glaswerkstätten gewohnt, ihren Ausschuss ins Meer zu werfen. Das Glas wurde von den Elementen verändert und irgendwann wieder angespült. Unter solchem Strandgut finden sich nicht nur Scherben sondern auch Reste von Figuren und Pflanzenformen.
Fundstücke erfahren durch die Hände der Künstlerin eine erfolgreiche Metamorphose. Das ehemals Wertlose wird in seiner Einmaligkeit betont und verliert zugleich den Eindruck des Billigen, Gewöhnlichen. Genaues Hinsehen, die Auswahl der Glasstücke und ihr Zusammenfügen folgen einer künstlerischen Idee. Deren Umsetzung erfordert perfektes Handwerk. Marianne Schliwinski bringt in ihren Schöpfungen vermeintlich Zufälliges in eine schlüssige Komposition. Sie hebt Alltägliches auf eine neue Bedeutungsebene und erschließt der Phantasie des Betrachters unendliche Möglichkeiten.
Ihre exzellenten handwerklichen Fähigkeiten hat sie in der Ausbildung als Goldschmiedin von 1964 bis 1967 bei Hadfried Rinke in Worpswede erworben. Von 1972 bis 1974 besuchte sie die Meisterklasse der Schule für Bau und Gestaltung in München und bestand die Meisterprüfung als Landesbeste. 1981gründete sie mit Jürgen Eickhoff die Galerie Spektrum für modernen Schmuck in München. Ihr weiterer Weg ist begleitet von Preisen, Ehrungen, Ausstellungen und von Lehraufträgen.
In ihrem Werkzyklus „Blumen“ (1993 - 1996) greift sie auf gläserne Blüten ohne Stängel zurück, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Gablonz produziert wurden. Sie werden in Ketten und Kränzen aufgefädelt wie in frühen Kindertagen gepflückte Wiesenblumen. Als Broschen gefertigte silberne Miniaturvasen geben das Behältnis für die farbintensiven Blütenkelche.
Im Zyklus „Hinter Glas“ (2002 – 2007) gewähren Glasscherben wie kleine Fenster Einblicke in die Vergangenheit. Vergilbte Bilder und altmodische Tapetenmuster werden vom Glas überformt und lassen schemenhaft und melancholisch über Vergänglichkeit nachsinnen. Die scharfen Kanten der Bruchstücke dagegen verweisen auf die Gegenwart. Gefühl und Verstand werden in einem modernen Schmuckstück ausgewogen zusammengeführt.
Der Werkzyklus „Ikonen des 20. Jahrhunderts“ (2004 - 2012) zeigt Broschen, in die jeweils das Portrait einer berühmten Persönlichkeit eingearbeitet ist. Schliwinskis Arbeiten zu Einstein, Picasso, Joyce, Rosa Luxemburg, Marie Curie und Virginia Woolf entstanden nach intensiver Beschäftigung mit deren Leben und Werk, wobei ein persönlicher Bezug ausschlaggebend wurde. Danach fügten sich Fundstücke aus dem Chaos ihrer Sammlung „wie von selbst“ zusammen. Ein Wissender vermag den inneren Zusammenhang zu deuten.
Horst Schulte
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